„Manchmal finden wir hier sogar Blumen“
Gedenken: Erinnerung am Güterbahnhof an die in den Jahren 1942 und 1943 aus Darmstadt deportierten Juden
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Eigentlich ist auch in Darmstadt bekannt, was in den Jahren 1942 und 1943 in so vielen deutschen Städten geschehen ist: Unzählige Menschen wurden aufgrund angeblich rassischer Merkmale an den Bahnhöfen zusammengetrieben und in Güterwaggons abtransportiert – häufig in den sicheren Tod. Die meisten der zum Tode verurteilten waren Juden sowie Sinti und Roma, allein in Darmstadt etwa 3400. Dennoch erinnerte mehr als 60 Jahre nichts in der Stadt an die Deportationen.

Seit dem 7. Oktober 2004 steht am Güterbahnhof ein Denkzeichen in Form eines Panzerglaswürfels, der an die Geschehnisse während des Dritten Reiches in Darmstadt erinnern soll. In seinem Innern befinden sich 450 Glasscherben mit den Namen 600 verschleppter und ermordeter Menschen. Der Prellbock vor dem Würfel symbolisiert das Ende des Grauens. „Das Denkzeichen erinnert an Darmstädter Bürgerinnen und Bürger, die solche nicht mehr sein durften“, sagte Astrid Messerschmidt am Sonntag anlässlich des Gedenkens an die aus Darmstadt deportierten Juden und Sinti 1942 und 1943.

Ungewöhnlich am Mahnmal ist der Umstand, dass hier Juden und Sinti gleichermaßen gedacht wird. Die beiden Künstler Ritula Fränkel und Nicholas Morris haben einiges geleistet – denn der Holocaust kann in einem Mahnmal nicht abgebildet, sondern nur gestalterisch ausgedrückt werden: „Was die beiden hier geschaffen haben, ist abstrakt und konkret zugleich“, sagte Messerschmidt. Das Denkzeichen sensibilisiere somit sowohl für Machtverhältnisse als auch für Ausgrenzung und Verschiedenheit. Peter Schmidt, Sprecher der Initiative „Gedenkort Güterbahnhof Darmstadt“, sagte: „Wir müssen auch heute immer wieder auf ‚die Anderen’ zugehen, damit Rassismus gar nicht erst entsteht.“

Stadtrat Klaus Feuchtinger verwies auf eine Rede des ehemaligen Oberbürgermeisters Peter Benz, um deutlich zu machen, dass es für ein Verbrechen wie im Dritten Reich immer einer schweigenden Mehrheit bedürfe. „Auch die Nachbarn, die weggesehen haben, waren in dieses Räderwerk verstrickt und willfährige Handlanger des staatlichen Terrors.“ Dass der Vernichtungsmaschinerie schon vor der Wannseekonferenz 1942 etwa 500 000 Juden zum Opfer gefallen waren, wusste Christoph Jetter in seinem Abriss zur Geschichte der Deportationen zu berichten. Bewegende Einzelschicksale jüdischer Bürger und Darmstädter Sintifamilien trugen Schüler der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule vor. Da war beispielsweise der Jude Karl Freund, als Kustos im Landesmuseum ein großer Förderer moderner Kunst. Er wurde 1933 aus dem Staatsdienst entlassen, 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Oder Sophie Gärtner, die das Grauen als Fünfzehnjährige miterlebt hatte und an der Gedenkfeier am Sonntag ebenfalls teilnahm: „Wir durften nichts mitnehmen“, erinnert sie sich. „Und in jeder Stadt wurden noch mehr Waggons mit Sinti angehängt.“

Entgegen aller Befürchtungen wurde das Denkzeichen bisher nicht zum Ziel von Vandalismus. Im Gegenteil: Renate Dreesen, ebenfalls Sprecherin der Initiative, betonte, die Bevölkerung habe das Mahnmal angenommen. „Manchmal finden wir hier sogar Blumen“, erzählt sie. „Die Menschen rufen uns jedes Mal an, wenn hier Müll herumliegt.“

Zum ersten Mal hatten die Veranstalter des alljährlichen Gedenkens zum Güterbahnhof eingeladen. Zentrales Anliegen aller Beteiligten ist es , den Ort als Stätte der Deportation Darmstädter Bürger im öffentlichen Gedächtnis zu bewahren.

babs
26.9.2005