Kommentar

Schweres Gedenken

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Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Ein Satz des Frankfurter Philosophen Theodor Wiesengrund Adorno. Die Aussage ist falsch. Selbstverständlich gibt es richtiges Leben im falschen. Nur fliegt es halt auf.

Bürgerschaftliches Engagement will es möglich machen, dass in Darmstadt an einem unwirtlichen, historisch aber passgenauen Ort das „Denkzeichen Güterbahnhof“ errichtet wird. Ein Mahnmal der anderen Art, angelegt als Installation fürs Denken, Bedenken, Gedenken. Wachhalten soll es die Erinnerung an die 1942 und 1943 deportierten Juden und Sinti aus Darmstadt und dem gesamten Volksstaat Hessen. Die lokale Rampe gen Holocaust war eben jener Güterbahnhof.

Die Initiative hat alles in die Wege geleitet. Der „Denkzeichen“-Entwurf ist gemacht, das Grundstück steht parat, ein Viertel der Gesamtkosten von rund 80 000 Euro sind in Form von Spenden akquiriert. Dann kommt den engagierten Bürgern – die hier das erledigen, was auch einer lokalen oder regionalen Parteigliederung mal hätte einfallen können über 50 Nachkriegsjahre hinweg – die folgenschwerste Idee: Sie schreiben mit der Bitte um einen finanziellen Beitrag zum „Denkzeichen“ viele Gemeinden an, aus deren Mitte damals Gestapo und Polizei deutsche Bürger verschleppten, weil sie der falschen Religion oder der falschen Ethnie angehörten. Gut siebzig Örtchen, Orte und Städte stehen auf der Liste, fünfzig kriegen einen Brief, fünf antworten wohlwollend positiv.

Nun ist Ebbe in allen Kassen. Verschärfend kommt aber hinzu, dass auch Ebbe ist in manchen Köpfen – was die Anerkenntnis und Wahrnehmung von Verantwortung anbelangt. Von Erinnerung und Demut ganz zu schweigen. Man erinnere schon genug an Weltkriegsopfer und Hitleropfer, war der Tenor der meisten abschlägigen Antworten. Und hier haben wir das falsche Leben im richtigen, das auffliegt.

Würden sechzig Gemeinden nur 1000 Euro spenden, wäre das Projekt glatt umsetzbar. Das ist keine Summe, das ist ein Sümmchen. Jede kleine Verkehrsinsel mit Fußgängerfurt kostet in Planung und Durchführung das Zwanzigfache. Aber sechzig Jahre nach den Viehwagen-Transporten, die immerhin Bürger aus Mainz, aus Worms, aus Darmstadt oder Reinheim im Direktverkehr in den Gastod verfrachteten, scheint für manche Gemeindeverwaltung die Zeit für Erinnerungsanstrengungen abgelaufen.

„Ich bin der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben.“ Das schrieb Ludwig Wittgenstein mutig in das Vorwort seines Tractatus logico philosophicus. Er irrte. Aber bei Wittgenstein ging es, bei aller Wertschätzung, nur um Probleme der Logik. Die knausernden Gemeinden gehen beim Thema „Denkzeichen“ vor wie Wittgenstein – und irren wie er. Sie halten die Probleme der braunen Vergangenheit für im Wesentlichen gelöst: Falsche Politik im richtigen Leben.

Paul-Hermann Gruner